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Gehörlosensport, der älteste organisierte Behindertensport
von Friedrich Waldow,
Ehrenpräsident des deutschen Gehörlosen-Sportverbandes e.V.
In der Öffentlichkeit wächst das Verständnis für die Behinderten und ihre Anliegen. Man sucht mehr Kommunikation mit ihnen und nach Möglichkeiten für wirksamere Hilfen. Die Bundesländer arbeiten an Behindertenplänen und haben schon einiges verwirklicht. In Anpassung an den entsprechenden Gesetzesmaßnahmen hat der 1951 gegründete Versehrtensportverband sich umgenannt in Deutscher Behinderten-Sportverband. Mit großzügiger staatlicher Hilfe bemüht er sich um die Rehabilitation, soziale Integration und gesundheitliche Förderung seiner über 80.000 körperbehinderten Mitglieder. Die Gehörlosen gehören nicht dazu. Warum nicht?
Kommunikationsmittel im Behinderten-Sportverband sind, wie in allen anderen Sportverbänden auch, Lautsprache und Gehör, die bei Gehörlosen nicht ankommen. Sie haben sich daher schon viel früher, als sie noch „Taubstumme“ genannt wurden, in einer eigenen Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen. Erst vor ungefähr 200 Jahren, 1778 in Leipzig, begann in Deutschland die offizielle
Beschulung der Taubstummen. Sie galten vorher als nicht bildungsfähig. Nun lernten sie wie andere Menschen lesen, schreiben und vor allem auch sprechen, soweit das beidem Einzelnen möglich war. Die Zahl der Taubstummenanstalten wuchs und etwa 100 Jahre lang gab es auch Turnunterricht.
1888 wurde der erste Taubstummen-Turnverein gegründet
Von den Taubstummenlehrern, die sich im 19. Jahrhundert für das „Turnen mit Taubstummen“ einsetzten, ist vor allem Albert Gutzmann (1837-1910) in Berlin zu nennen. Er setzte sich nicht nur in Wort und Schrift für das Turnen als Pflichtfach an den Taubstummenschulen ein, sondern gründete 1888auch den ersten Turnverein für seine Schulabgänger. Die Gründungsversammlung am 28.11.1888 gab ihm den Namen „Taubstummen-Turnverein `Friedrich`“ zu Ehren des im gleichen Jahr verstorbenen Kaisers Friedrich III., dem in der letzten Zeit seines Lebens auch die Sprache versagt gewesen war. Die Traditionsfahne dieses ersten Vereins, der alle Kriegs- und Nachkriegsjahre überdauert hat und beim Sportfest den Fahnenordnungen vorangetragen wird, befindet sich in der Obhut des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes. Es lohnt sich, Gutzmanns damalige Anregungen für die Vereinsgründung zu zitieren, denn sie lesen sich wie eine moderne Motivation für den Gehörlosensport, der kaum etwas hinzuzufügen ist:
„ ... überzeugt von der Notwendigkeit, den einzelnen Taubstummen vor geistiger Verarmung und gesellschaftlicher Vereinsamung zu bewahren, ihm in einer größeren Gemeinschaft Anregung zur Tatkraft und inneren Freudigkeit zu geben, ihn weiter zu bilden. ... die in der Schulzeit betriebenen Turnübungen fortzusetzen, zu erhalten und zu erweitern, dadurch den Körper für die Berufstätigkeit zu kräftigen und zu stählen, ihn auch stets frisch und gesund zu erhalten und immer größere Gewandtheit und Geschicklichkeit in
der Beherrschung aller Bewegungsformen zu erzielen. ... Da seine Tätigkeit bei weitem mehr auf dem Gebiet der körperlichen als der ausschließlich geistigen Arbeit liegt, so gilt es auch, seine körperliche Kraft und Anlage zur größtmöglichen Leistungsfähigkeit herauszubilden und zu steigern, damit sie im Kampf um das persönliche Dasein auch ausreiche und nicht versage ... Auch sollen fröhliche Geselligkeit und geistige Anregung und Unterhaltung sowie gegenseitige kameradschaftliche Unterstützung und Beratung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen im Verein ihre Pflege finden. ...“
Die Entwicklung zur heutigen Sportorganisation
Vorauszuschicken ist, dass mit der Bildung der Taubstummen, vor allem der Ausbildung der Lautsprache, sich auch die Einstellung der Betroffenen zur Bezeichnung „taubstumm“ änderte. Die meisten lernten sprechen bzw. bewahrten ihre in früher Kindheit erworbene Lautsprache und wollten nicht mehr als „stumm“ gelten, weder sprachlich noch geistig. Und weil die Begriffe „taub – Taube – Tauber – Tauben“ licht zu grotesken Verwechslungen mit gewissen gefiederten Geschöpfen führten, kam der Terminus „gehörlos“ in den Sprachgebrauch.
Der Turnverein „Friedrich“ war lange Zeit der einzige Verein, der den Gehörlosen Gelegenheit zu Leibesübungen (sportlicher Betätigung) gab. Erst 1900 entstand mit dem Berliner Taubstummen-Schwimmverein ein zweiter, dem dann in kurzer Folge in Köln, Hamburg, Leipzig, Frankfurt/M. und anderen Großstädten weitere folgten. Dies waren in der Mehrzahl Turn- oder Turn- und Sportvereine, die sich am 21.08.1910 in Köln zum Verband deutscher Taubstummen-Turnvereine zusammenschlossen. Ihm traten aber noch nicht alle einschlägigen Vereine bei. Es bestanden noch andere Verbände der gehörlosen Turner, Schwimmer, Fußballspieler und Leichtathleten sowie Wanderer. Trotzdem nahm die Begeisterung für sportliche Betätigung unter den Gehörlosen zu und 1925 wurde ein Höchststand an Mitgliedern erreicht. Ein Zusammenschluss der Verbände scheiterte immer wieder an falsch verstandenem
Eigeninteresse. Um diese Zeit wurde Heinrich Siepmann aus Essen, der technische Leiter im taubstummen Fußball- und Leichtathletikverband, besonders aktiv. Er war schon dabei, als 1922 in Hamburg der „Reichsausschuss deutscher Taubstummenverbände für Leibesübungen“ gegründet wurde, ein Art Dachverband, der alle Vorsitzenden und technischen Leiter der damaligen TaubstummenSportverbände unter einen Hut brachte. Von da an ist die Geschichte des Gehörlosesports in Deutschland und in der Welt unlösbar mit dem Namen Heinrich Siepmann verbunden. Er bewirkte beim 1. Kongress des Comitée International des Sports Silencieux (CISS) 1926 in Brüssel die Aufnahme des Verbandes deutscher Taubstummen Turn- und Sportvereine, der mit seinem Gründungsjahr 1910 als ältester seiner Art in der Welt gilt. Siepmann wurde zum Vizepräsidenten des CISS gewählt. Dieses internationale Komitee für Taubstummensport war 1924 in Paris gegründet worden und hatte dort erstmals internationale Taubstummenspiele veranstaltet, an denen 6 Länder teilnahmen.
Unter großen finanziellen Schwierigkeiten schuf Siepmann 1928 die Voraussetzungen für eine Teilnahme deutscher Sportler bei den 2. Internationalen Taubstummenspielen in Amsterdam und übernahm 1929 nach den Vorkämpfern Hermann Hauboldt (Torgau), Hermann Zech (Berlin) und Arthur Weber (Halle) den Vorsitz im „Reichsausschuss“, immer mit dem Ziel vor Augen, die einzelnen Separatverbände zu einem einzigen Gehörlosen-Sportverband zu verschweißen. Dazu diente ihm auch die Ausrichtung der 3. Internationalen Taubstummenspiele 1931 in Nürnberg, die unter Teilnahme von 15 Ländern zu einem großen Erfolg für
den deutschen Gehörlosensport wurden. Damit war der Boden für einen Zusammenschluss schon weitgehend bereitet, und im Zuge der Gleichschaltungsmaßnamen 1933 ließ sich der neue „Verband deutscher Gehörlosen Turn- und Sportvereine“ ziemlich glatt aus der Taufe heben.
Unter der Verbandsführung von Heinrich Siepmann und seinen ausschließlich gehörlosen Mitarbeitern, die alle ehrenamtlich tätig waren, ging der Verband einer großen Blüte entgegen, gekennzeichnet durch regen Lehrgangsbetrieb und Wettkampfverkehr, auch international, mit einer bescheidenen finanziellen Unterstützung durch die öffentliche Hand, Teilnahme an allen Gehörlosen Welt-,
Sommer- und Winterspielen, Durchführung von Deutschen Gehörlosen- Turn- und Sportfesten und Zustrom immer neuer junger Gehörloser sowie Neugründung von Gehörlosen Sportvereinen.
Durch den 2. Weltkrieg erfuhr der Gehörlosensport kaum Einbußen, weil Gehörlose nicht zum Kriegsdienst herangezogen wurden. Einschränkungen und Improvisationen mussten auch in Kauf genommen werden, doch erst der totale Zusammenbruch im Jahr 1945 brachte alles zum Erliegen. Aber schon bald zeigte es sich, dass die Gehörlosen ihren Sport nicht missen konnten. Die Vereine wurden schnell wieder aktiv und abermals war es Heinrich Siepmann, der sie 1947 im neu gegründeten deutschen Gehörlosen-Sportverband zusammenfasste und diesen zu einer geradezu stürmischen Entwicklung brachte. Eine große Hilfe war dabei der
Landessportbund Nordrhein-Westfalen, dessen unvergesslicher Vorsitzender Dr. Bauwens sowie der Geschäftsführer Herr Grömmer für reichlich Mittel zur Durchführung von Lehrgängen und Erstausstattung mit Sportgeräten sorgten.
Schon 1949 – allerdings 12 ganze Jahre nach dem letzten großen verbandssportfest 1937 in Königsberg/Preußen – fand das 6. Deutsche Gehörlosen-Sportfest in Bad Vilbel bei Frankfurt/M. statt. Die Durchführung war noch mit erheblichen Material- und
Geldschwierigkeiten verbunden, dabei offenbarte sich aber auch die große Begeisterung der Gehörlosen für ihre Sport- und Schicksalsgemeinschaft. Die zahl der Vereine und Mitglieder nahm nun rasend zu. 1939 hatte der verband in „Großdeutschland“ 105 Vereine mit 5.100 Mitgliedern. 1951 zählte er in er Bundesrepublik 45 vereine mit 1.700 Mitgliedern, 1971 waren es schon wieder 106 Vereine mit 4.300 Mitgliedern, und der noch stärker angestiegene Lehrgangsbetrieb und Sportverkehr, vor allem international, waren durch ehrenamtliche Geschäftsführung nicht mehr zu bewältigen.
Mit verständnisvoller Hilfe de Sportreferates im Bundesinnenministerium wurde daher am 01. Mai 1971 die Stelle des hauptamtlichen Geschäftsführers eingerichtet, und Verbandsvorsitzender Siepmann hatte eine glückliche Hand bei der Besetzung
dieser Stelle mit dem gehörlosen Schriftsetzer Werner Kliewer, der sich schon in jungen Jahren durch hervorragenden ehrenamtlichen Einsatz in der Jugendarbeit profiliert hatte. Unter der Anleitung von Siepmann nahm er seine Aufgaben mit starkem persönlichem Engagement wahr und trieb die vom Verbandstag beschlossene Neuordnung des Verbandes mit großem organisatorischen Geschick voran. Heinrich Siepmann starb am 22. September 1974 im 74. Lebensjahr, nachdem es ihm noch vergönnt war, im August das Deutsche Gehörlosensportfest in Mainz mitzuerleben. Der Verband ehrt sein Andenken durch die Schaffung der Heinrich-Siepmann-Sportplakette, die jährlich höchstens dreimal für hervorragende sportliche Leistung oder Betreuung verliehen wird. Bei seinem Tod war die Neuordnung des Verbandes noch nicht abgeschlossen, aber er hatte nun schon 110 Vereine mit 5.170 Mitgliedern gegründet. Auch die weiteren Jahre 1975-1977 waren von einer weiteren mitglieder- und strukturmäßigen Aufwärtsentwicklung gekennzeichnet. Auch heute noch spielen GehörlosenSportvereine eine wichtige Rolle in ihrem Leben.
Die Bedeutung des Gehörlosensports
Der Gehörlosensport bietet uns Gehörlosen, Schwerhörigen und Spätertaubten die Möglichkeit einer sinnvollen und abwechslungsreichen Freizeitgestaltung. Wir genießen die sportliche Betätigung i einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, in der die
Isolierungsgefühle schwinden und wir die Möglichkeit haben, Freunde/Bekannte zu treffen du neue Kontakte zu knüpfen.
In einer Welt, die sich in ihrer technischen Entwicklung ebenso wie in ihrem kulturellen Angebot in aller erster Linie an Gehör und Sprache orientiert, sind wir vom Fortschritt und von der Teilhabe weitestgehend ausgeschlossen. Wir erwaten deshalb von der Gesellschaft, dass sie uns als gleichberechtigt akzeptiert und unserer Sprache und Kultur anerkennt. Um dies zu verwirklichen,
muss der Staat seine Sozialgesetze und Behindertenpläne angemessen ändern, dann wäre auch die Umsetzung folgender Maßnahmen einfacher:
1) Übungsleiter – Ausbildung verstärken
Erfreulich ist der starke Zustrom junger gehörloser, insbesondere des weibliche Geschlechts. Deswegen sind wir besonders bemüht, den Vereinsbetrieb sachgerecht und optimal zu gestalten. Das ist nur möglich durch Einsatz von befähigten und gut ausgebildeten gehörlosen Übungsleitern, die durch den Fachverbände laufend geschult werden müssen. Es gibt bereits einige gehörlose Übungsleiter und bei den hörenden Übungsleitern ist immer ein/e GebärdensprachdolmetscherIn dabei.
2) Systematische Leistungsschulung
Im Gehörlosensport besteht unter den Gehörlosen der Welt ein reger internationaler Wettkampfverkehr. Um das Leistungsniveau der deutschen gehörlosen Sportler auf internationaler Linie zu erhalten, ist deren Schulung durch einen nur dem Gehörlosensport zur Verfügung stehenden Verbandstrainer erforderlich, er eine spezielle Ausbildung oder langjährige Erfahrung mit Gehörlosensportlern haben sollte und auch Training in Leistungszentren der Spitzenverbände übernehmen kann. Voll ausgebildete gehörlose Sportlehrer gibt es jedoch nicht.
3) Bessere Zusammenarbeit mit den Gehörlosenschulen
Um in den gehörlosen, schwerhörigen, spätertaubten und Ci- tragischen Kindern schon in der Schulzeit die Liebe zum Sport zu wecken und ihnen schon frühzeitig den Weg zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung in ihre Berufsleben zu zeigen, ist ein engerer Kontakt der Gehörlosen-Sportverbände und –vereine zur nächstgelegenen Gehörlosenschule anzustreben. Praktisch könnte das auch so aussehen, dass die ausgebildeten gehörlosen Übungsleiterinnen mit den Kindern und Lehrkräften am Nachmittag freiwillige Turn-, Sport-, Spiel- oder Schwimmstunden abhalten und damit die sportliche Betätigung in den Gehörlosenschulen unterstützen. Die Landessportverbände sollten regelmäßig Schulsportfeste mit den Lehrkräften organisieren, wie es in einigen Bundesländern schon mit großem Erfolg seit Jahren praktiziert wird. Empfehlenswert ist eine Kooperationsvereinbarung zwischen den Turn- und Sportvereinen und Schulen in Verbindung mit der Förderung des Gehörlosensports.
Die Entwicklung des Gehörlosensports in Hamburg
Am Anfang war ...
der Hamburger Gehörlosen-Sportverein von 1904 e. V. eine Abteilung des Taubstummen - Turnvereins zu Hamburg, der dem AGUV (Allgemeiner Gehörlosen Unterstützungsverein e. V.) angehörte. Bei der Gleichschaltung im Jahre 1933 mussten sich der damalige Hamburger Taubstummen Turnverein von 1904 mit dem Hamburger Taubstummen Sportverein von 1921, dem Hamburger TaubstummenSchwimmverein von 1922 und dem Altonaer Taubstummen Sportverein von 1926 zusammenschließen. Seitdem ist der Sportverein unter dem neuen Namen „Hamburger Gehörlosen-Sportverein von 1904 e.V.“ überall bekannt.
Die Fortsetzung ...
Ende der 40er Jahre ist unser Verein im Vereinsregister beim Amtsgericht eingetragen worden und hat seitdem eine interessante Entwicklung vollzogen. Mitte der 60er Jahre trat ein Wendepunkt im Sportverein ein. Die Abteilungen wurden „selbständig“ mit eigener Leitung und Kassenführung. Von da an ging es aufgrund guter Jugendarbeit mit großen Erfolgen bergauf. Dank des großen Einsatzes der Mitarbeiter/innen konnte der Fortbestand des Vereins gesichert werden. Zahlreiche Titel in den Meisterschaften des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes (DGS) in vielen Sportarten dokumentieren den Erfolg der Vereinsarbeit. Dazu wurden unzählige Rekorde in den Sportarten Leichtathletik und Schwimmen. Die Sportler/innen wurden und werden immer wieder in die
Nationalmannschaft des DGS für Länderkämpfe und zu den Deaflympics einberufen. Durch ein Projektförderungsprogramm vom Hamburger Sportbund wurde in der Geschäftsstelle eine hauptamtliche Kraft im April 1988 eingestellt. Die Finanzierung
hierfür übernimmt seit 1991 die Behörde für Soziales und Familie. Dies trägt zur erheblichen Entlastung des ehrenamtlichen Vorstandes bei.
Hamburg, dem 26.09.2006